Wir nähern uns mit großen Schritten unserem bisher bedeutsamstem Reiseziel: dem nördlichsten Punkt Islands. Es wird zwar noch etwas dauern, bis wir den Polarkreis wirklich erreichen, aber wir spüren jetzt schon, dass ein großer Meilenstein vor uns liegt. Nach einem ruhigen Morgen in Þórshöfn, brechen wir in Richtung Raufharhöfn auf, der nördlichsten Siedlung auf Islands Festland. Es geht vorbei an Gesteinslandschaften, in denen die Vegetation immer weiter abnimmt. Nicht nur das, es wird außerdem deutlich kälter, je weiter wir in Richtung Norden fahren, windiger und vor allem ungemütlich.

Die Abfahrt vom Pass wird begleitet von einem atemberaubenden Blick auf die weite, nördliche Ebene, in der wir wegen der Berge um uns herum kurzzeitig sogar vollkommen windgeschützt fahren können. Keinen Wind in Island zu spüren, ist für uns ein seltsam fremdes Gefühl, denn es wird auf einmal ganz ruhig um uns herum. Als wir in der Ferne etwas Rotes entdecken, halten wir neugierig darauf zu und entdecken eine ältere Isländerin, die eine knallrote Jacke trägt. Fröhlich grinsend sitzt sie mitten in der Heide, winkt uns zu und wirkt beinahe wie eines der isländischen Fabelwesen, von denen wir gelesen haben. Wir winken überrascht zurück, legen etwas weiter entfernt eine Pause ein und sehen dann auch, warum die Frau so glücklich ist: die Heide ist voller Beeren. Diese Chance können wir uns nicht entgehen lassen, pflücken einige dieser Beeren und stärken uns mit ihnen. Voller Kraft schwingen wir uns wieder auf die Fahrräder und fahren über die schmale, aber kaum befahrene Straße in Richtung Raufarhöfn. Auch der Wind setzt wieder ein, je näher wir dem Meer kommen und pustet uns zum Ortsschild unseres Reiseziels, das wir unendlich glücklich erreichen.

Raufarhöfn ist besonders für Jürgen ein großes Ziel und ein Meilenstein, nicht nur auf der Island-Reise, sondern auch auf der Reise seiner Heilung. Während er einen Arzt-Termin nach dem anderen hatte, langsam genesen ist und nach den OPs wieder lernen musste, selbstständig zu laufen, hat er sich vorgenommen, dass er unbedingt einmal die Arctic Henge in Raufarhöfn mit eigenen Augen sehen wollte. Jetzt, wo wir wirklich an diesem Ort angekommen sind, kann er sein Glück kaum in Worte fassen. Diese kleine Stadt am Meer eigenständig mit dem Fahrrad zu erreichen, lässt ihn so breit strahlen, dass die Sonne über uns neidisch wird.

Unser Campingplatz ist relativ windgeschützt hinter einem Erdwall und fußläufig zu einem Schwimmbad gelegen, in das wir unbedingt am nächsten Tag gehen wollen, um uns aufzuwärmen. Während wir unsere Fahrräder anschließen, entscheiden wir einstimmig, dass wir nicht nur eine Nacht, sondern gleich zwei an diesem Ort bleiben wollen, sodass wir uns ausruhen, Kraft tanken und unsere bisherigen Erlebnisse in Ruhe verarbeiten können.

Die Sonnenuntergänge dauern in Island immer besonders lange und obwohl wir erschöpft, durchgefroren und müde sind, thronen auf dem Berg in unserem Sichtfeld die Arctic Henge und locken uns zu sich. Die Wanderung bergauf führt uns durch das menschenleere Raufarhöfn, eine gerade Asphaltstraße hinauf. Eine halbe Stunde brauchen wir, dann stehen wir am höchsten Punkt der Stadt und bestaunen die Steinbögen. Ausgerichtet nach den Himmelsrichtungen befinden sich vier Bögen um uns herum, in ihrem Mittelpunkt der größte mit vier Beinen. Wir spüren ganz deutlich die Schwingungen dieses Ortes und können zu diesem Zeitpunkt, als die Sonne langsam untergeht und den Himmel in ein strahlendes Orange taucht, endgültig nicht mehr leugnen, dass Island ein Ort voller Zauber, Magie und Mythen ist.